Flaneid

Das Diskretionsdilemma

Aus ff 12 vom Donnerstag, den 24. März 2022

Das Problem der heutigen Kommunikation ist, dass zu viele reden. Und dass noch mehr zuhören.

Öffnet nicht dieses Buch, meine Brüder und Schwestern!“, sagte Pfarrer Elmar Kaslatter eindringlich von der Kanzel herab. Das spärliche Kirchenvolk nickte ernst, fragte sich aber hinter vorgehaltener FFP2-Maske: „Welches Buch denn?“ Schon seit Wochen warnte auch der Flaneider Bote davor, „dieses Buch“ zu lesen, und drohte mit Höllenqualen bzw. dem Entzug des Abonnements. Es war auch nicht leicht zu finden, „dieses Buch“. Aber vor lauter Warnungen wollte es nun jeder haben. Es waren nur ein paar zusammengeklammerte Zettel, auf denen jemand aufgeschrieben hatte, worüber und gegen wen die oberen Zehntausend in Flaneid miteinander redeten, wenn sie sich nicht belauscht fühlten. Bald hatte jeder eine Kopie. „Das Biotop“ lautete der mit Schnipselbuchstaben zusammengefügte Titel, aber alle verstanden, dass eigentlich „Der Sumpf“ gemeint war.

Max Minder, Obmann der regierenden Bürgerliste Harpf, ging das „Machwerk“ zusammen mit seiner Frau und Sozialassessorin Milli im Gasthaus Unterganzner durch. Am wichtigsten war jetzt natürlich, den Maulwurf zu finden. „Als ich den Bürgermeister als Dorftrottel bezeichnet habe, war die Rosl Kranz am Nebentisch“, rechnete Max zusammen, „aber als ich gesagt habe, was die Olga für eine Hyäne ist, war die Rosl schon nicht mehr da, da war der Harasser.“ „Ich habe zu Olga gesagt, dass er ein Trottel ist, und da war der Harasser auch da“, berichtete Milli, „aber als sie gesagt hat, nein, er ist ein Obertrottel, dann war der Pfarrer daneben. Keiner von denen war dauernd da, aber diese Geschichte ist aus einem Guss.“ „Moment“, unterbrach Max, „wer war eigentlich die ganze Zeit da?“

Der Ziggl-Franz, der wie jeden Tag am Budel stand, sagte sich, er würde jetzt lieber nichts sagen, und bestellte das nächste Glas. Da sich im Unterganzner die ganze Flaneider Politik abspielte, waren Gasthausgespräche hochbrisant. Der Franz interessierte sich nicht für Politik, aber er war notgedrungen immer mittendrin. Max und Milli schauten ihn giftig an.

„Lasst den Franz in Ruhe!“, sagte Coelestin Unterganzner, der Wirt, der die bösen Blicke bemerkt hatte, „ihr glaubt doch nicht wirklich …“. Er hätte besser auch nichts gesagt. „Du bist ja auch die ganze Zeit da!“, verkündete Finanzassessorin Hedwig Helfer ihren ersten Ermittlungserfolg. „Ich? Logisch!“, antwortete der Wirt. „Das könnte Konsequenzen haben“, deutete Milli an.

Die Konsequenz kam am nächsten Tag. „Das Unterganzner ist ein verludertes Lokal, in dem sich zwielichtige Gestalten herumtreiben“, titelte der Flaneider Bote. Unterganzner hielt die Zeitung hoch und grinste: „Seid ihr die zwielichtigen Gestalten?“, fragte er die Minders.

Auf Seite 2 kam die nächste Konsequenz. Gemeinderätin ­Theresia Wiedersacher, die zwar wie Minder zur Bürgerliste gehörte, aber zur Opposition gezählt wurde, da sie immer mit ihrem Kopf abstimmte, forderte den sofortigen Rücktritt, vom Papst abwärts, eine Bürger­versammlung und die Herausgabe der vollständigen Abhörprotokolle. „Eher trete ich jemandem in den Hintern als zurück“, sagte Olga Klotz, die regierende Vizebürgermeisterin.

Bei einer Krisensitzung in der hinteren Zirmstube wurde vereinbart, bei politischen Gesprächen nicht mehr so unflätige Worte zu verwenden und, vor allem, eine sichere Verbindung zu nutzen.

Max Minder griff zur halben Coladose, die an einer Schnur an der Wand hing. Die Schnur reichte nach draußen und bis ins Rathaus hinein. „Daniel“, sagte er zum Bürgermeister, „hörst du mich?“ Die Verbindung war denkbar schlecht, also musste Minder laut werden, damit das vertrauliche Wort an den Zielort kam. Es ging außerdem nicht gut aus. „Du Arschloch!“, schrie Minder
schließlich. Das ganze Lokal drehte sich nach ihm um.

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